"Bei Sicherheit und Migration muss man international zusammenarbeiten"

Interview, 22. August 2020: NZZ; Georg Häsler Sansano und Larissa Rhyn

NZZ: "Ein Ja zur Begrenzungsinitiative würde auch das Schengen-Abkommen und damit das Rückgrat der Sicherheit der Schweiz gefährden, warnt Justizministerin Karin Keller-Sutter im Gespräch mit Georg Häsler Sansano und Larissa Rhyn"

Frau Bundesrätin, lassen Sie uns zuerst über Ihr Schweiz-Bild sprechen: Soll unser Land ein Einwanderungsland sein?
Ihre Frage setzt voraus, dass es entweder das eine oder das andere gibt. Natürlich ist die Schweiz auch ein Einwanderungsland. Aber sie ist auch ein Land, aus dem ausgewandert wird. Dazu kommt, dass wir auf eine gewisse Zuwanderung angewiesen sind. Unser Arbeitsmarkt muss ergänzt werden. Darum haben wir die Personenfreizügigkeit und die Drittstaatenkontingente - für Fachkräfte, aber auch für Berufe, wo die Schweizerinnen und Schweizer nicht prioritär arbeiten wollen, zum Beispiel in der Küche oder auf dem Feld.

Rund jeder Dritte sagt laut den letzten Umfragen Ja zur Begrenzungsinitiative (BGI) der SVP. Diese Schweizerinnen und Schweizer finden, unser Land solle souverän sagen dürfen, wer einwandern dürfe. Die Zuwanderung der letzten Jahre ging ihnen zu weit. Was sagen Sie ihnen?
Die Begrenzungsinitiative ist keine Abstimmung über die Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz. Es ist lediglich eine Abstimmung über die Frage, ob man die Personenfreizügigkeit kündigen und damit den bilateralen Weg riskieren will oder nicht. Wenn man schaut, wer im Rahmen der Personenfreizügigkeit in die Schweiz kommt, dann sind das Leute, die auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt werden. Sie müssen ja auch einen Arbeitsvertrag haben, damit sie hierbleiben können. Daneben gibt es natürlich auch illegale Migration, es gibt auch gewisse Spätfolgen der früheren Rekrutierungspolitik. Aber das ist die Zuwanderung von ausserhalb der EU. Die Integration dieser Personen ist viel schwieriger. Aber das hat mit der Personenfreizügigkeit überhaupt nichts zu tun.

Jetzt noch einmal konkret: Was sagen Sie diesen Menschen?
Ich verstehe ihre Sorgen. Und ich teile sie teilweise. Aber sie haben nichts mit dieser Abstimmung zu tun. Hier geht es nur um die Frage: Soll man das Personenfreizügigkeitsabkommen kündigen oder nicht? Es geht weder um Ausländerpolitik, noch um Integration, noch um die Asylfrage.

Die SV P argumentiert, jeder Europäer könne hier ein paar Wochen arbeiten und dann von den Sozialleistungen profitieren.
Das ist falsch. Es ist nicht so, dass einer herkommen kann, nur kurz eine Stelle hat und dann Sozialhilfe beziehen kann. Personen, die in den ersten zwölf Monaten ihre Stelle verlieren, haben zwar einen gewissen Anspruch auf Arbeitslosengelder, aber dann müssen diese Leute das Land wieder verlassen. Von der Sozialhilfe sind sie ausgeschlossen. Früher war das anders, aber wir haben dies im Vollzug vor kurzer Zeit korrigiert. Nur wenn jemand jahrelang hier gearbeitet und immer in die Arbeitslosenkasse eingezahlt hat, hat er den gleichen Anspruch auf Sozialleistungen wie ein Schweizer.

Manche älteren Arbeitnehmer haben Angst, dass ihnen qualifizierte Arbeitskräfte aus Europa den Job streitig machen. Ist das so?
Es ist gefühlt richtig und faktisch falsch. Wir alle kennen Fälle in unserem Umfeld, wo beispielsweise ein 55-jähriger Informatiker durch einen jungen Deutschen ersetzt wurde. Aber alle Untersuchungen zeigen, dass keine systematische Verdrängung stattfindet. Es ist aber so, dass es in den Grenzregionen eine höhere Konkurrenz gibt. Der Bundesrat hat dennoch Massnahmen ergriffen, um die inländischen Arbeitskräfte zu stärken und gezielt auch ältere Arbeitnehmer zu unterstützen. Das ist eine Herausforderung, die wir unabhängig von der Personenfreizügigkeit haben.

Diese Massnahmen, insbesondere die Überbrückungsleistungen, wurden also beschlossen, um der BGI den Stecker zu ziehen.
Man kann das so interpretieren. Aber Fakt ist, dass die Sozialpartner sich im Vorfeld der BGI wieder an einen Tisch gesetzt haben. Und das war wichtig. Das Verhältnis zwischen den Sozialpartnern und mit dem Bundesrat war zerrüttet. Und für mich ist klar, dass man für europapolitische Abstimmungen die Allianz aller Kräfte braucht, die den bilateralen Weg wollen. Sie haben dann in der Tradition der flankierenden Massnahmen diese Massnahmen erarbeitet. Aber man muss fairerweise sagen: Dieses Paket hätte es ohnehin gebraucht. Auch wegen der demografischen Entwicklung.

Sie argumentieren im Abstimmungskampf mit "alles oder nichts", ein Ja wäre das Ende des bilateralen Wegs. Der abtretende SVP-Präsident Albert Rösti hingegen sagt, die Schweiz könne bei einem Ja zur Initiative die Personenfreizügigkeit sistieren statt kündigen.
Ich empfehle allen, die hier zweifeln, den Initiativtext zu studieren. Dort steht klar: Der Bundesrat soll das Abkommen auf dem Verhandlungsweg mit der EU ausser Kraft setzen - und wenn das nicht gelingt, kündigen. Das Wort "Sistieren" habe ich nirgends gesehen. Man muss sich bewusst sein, dass eine Kündigung automatisch den Wegfall der anderen bilateralen Verträge zur Folge hat. Ich finde diese Guillotineklausel auch nicht gut. Aber wir haben diesen Vertrag abgeschlossen, er wurde vom Volk gutgeheissen, und damit müssen wir nun arbeiten.

Wäre dieser Scherbenhaufen nicht auch eine Chance für einen totalen Neubeginn mit der EU?
Da bin ich jetzt vielleicht etwas konservativ. Ich habe lieber den Status quo, der sich bewährt hat, als einen vertragslosen Zustand, bei dem ich nicht genau weiss, wie er sich entwickeln wird. Dieses Risiko würde ich nicht eingehen. Zumal man die Zuwanderung, die man angeblich reduzieren will, vermutlich nicht einfach reduzieren kann, weil sie konjunkturabhängig ist. Das zeigt sich nur schon daran, dass es auch mit früheren Systemen Jahre mit viel und solche mit wenig Zuwanderung gab.

Ihr Kerngeschäft ist Justiz und Polizei. Sie haben früher stets eine restriktive Politik gegen kriminelle Ausländer verfolgt. Die Mehrheit der Gefängnisinsassen in der Schweiz sind Ausländer. Da müssten Sie den Initianten eigentlich recht geben, wenn sie sagen: Die Zuwanderung macht die Schweiz unsicher.
Punkt eins: In den letzten zehn Jahren ist die Kriminalität in der Schweiz um 20 Prozent gesunken. Punkt zwei: Die Mehrheit der Gefängnisinsassen sind zwar Ausländer, aber nur eine Minderheit von ihnen stammt aus der EU. Die meisten kommen aus Drittstaaten. Und viele der inhaftierten Ausländer haben ihren Wohnsitz gar nicht in der Schweiz. Personenfreizügigkeit heisst: Zugang zum Arbeitsmarkt. Personenfreizügigkeit heisst nicht: Kommt bitte hierher, um euch kriminell zu betätigen. Das hat auch das Bundesgericht festgehalten.

Sie argumentieren, mit einem Ja zur B GI wäre Schengen/Dublin gefährdet. Aber die Abkommen hängen nicht direkt zusammen. Wollen Sie den Leuten Angst machen?
Der Bundesrat schreibt im Abstimmungsbüchlein klar, dass es keinen rechtlichen Zusammenhang gibt. Nur die ersten sieben bilateralen Verträge sind rechtlich verknüpft. Aber Schengen/ Dublin ist politisch mit der Personenfreizügigkeit verbunden. Auch die Präambel des Abkommens stellt den Bezug klar. Es macht auch keinen Sinn, Schengen/Dublin zu haben ohne Personenfreizügigkeit. Das sieht man jetzt bei den Briten. Den Briten will man den Stecker zum Schengener Informationssystem ziehen - in einer Zeit, wo wir wissen, dass wir kriminellen Phänomenen nur beikommen können, wenn wir zusammenarbeiten. Hier sollten wir kein Risiko eingehen.

Die Schweiz hat bei der Polizei bereits einen regen Austausch mit anderen Staaten. Nun hat das Parlament einer neuen Vorlage weitgehend zugestimmt, welche die internationale Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden verstärken will. Warum braucht es einen Ausbau?
Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Polizei ist das Rückgrat der Sicherheit in der Schweiz. Wir haben 300 000 Abfragen im Schengener Informationssystem pro Tag. Und es gibt jährlich über 20 000 Fahndungstreffer. Das System wird stets weiterentwickelt. Es geht beispielsweise darum, auch potenzielle Opfer ausschreiben zu können. Wenn ein Vater nach der Scheidung die Kinder abholt und mit ihnen über die Grenze geht, ist er kaum aufzuhalten. Neu soll es Kategorien geben von gefährdeten Kindern.

Sie sagen, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit sei das Rückgrat der Sicherheit in der Schweiz. Wir machen uns also extrem abhängig vom Ausland.
Die gegenseitige Abhängigkeit oder positiv formuliert: Die Kooperation ist heute das A und 0 in der Kriminalitätsbekämpfung zum Schutz der Bevölkerung. Natürlich können wir sagen, wir steigen aus Schengen aus. Aber das würde den Schweizer Polizisten die Arbeit erschweren. Es gibt einfach Dinge, die man nur zusammen machen kann. Man kann ja darüber streiten, was die Raison d’Etre der EU ist, was sie können muss. Ich sollte mich vielleicht als Bundesrätin hier etwas zurückhalten. Aber wenn es einen Bereich gibt, in dem man europäisch zusammenarbeiten muss, dann ist es Sicherheit und Migration.

Wie wird die Zusammenarbeit denn konkret ausgebaut?
Wir streben unter anderem ein Polizeikooperationsabkommen an mit dem United Kingdom (UK). Wir sind in Verhandlungen, und ich bin guter Dinge, dass dieses Abkommen bald abgeschlossen werden kann. Wir wollen keine Sicherheitslücke, wenn die Schengen-Kooperation wegen des Brexits wegfällt. UK ist ein hervorragender Partner in der Terrrorbekämpfung. Praktisch alle Jihad-Treffer haben wir den Briten zu verdanken. Seit dem 1. August haben wir in London auch einen Polizei-Attaché.

Das Zauberwort heisst Interoperabilität, also die Möglichkeit, zusammenzuarbeiten. Bei der Armee wurde die Annäherung an die Nato mit Verweis auf die Neutralität gebremst. Wie stark kann sich die souveräne Schweiz in die polizeiliche Sicherheitsarchitektur Europas integrieren?
Die Polizeihoheit bleibt bei den einzelnen Ländern. Das ist nicht vergleichbar mit dem Militär. Das Beispiel der Schweiz zeigt, dass es funktioniert, hier verbleibt die Polizeihoheit ja auch bei den Kantonen. Es gibt bereits gemeinsame Informationssysteme für Visa, Fingerabdrücke und so weiter. Diese sollen aber neu verknüpft werden, damit man mit einer Abfrage alle Resultate bekommt. So kann man sehr rasch Leute identifizieren, die mit Dutzenden Alias-Namen unterwegs sind. Heute erwischt man diese bei der Einreise möglicherweise nicht.

Das ist eine weitgehende Integration. Es gibt ein europäisches Lagebild - und die Schweiz wird polizeilich Teil von Europa.
Fangen wir mal beim Schweizer Lagebild an. Das haben wir nämlich noch nicht. Wir haben zwar eine gute Zusammenarbeit mit den Kantonen. Aber wir tauschen mehr Informationen mit europäischen Staaten aus als zwischen den Kantonen. Wenn Sie einen Verdächtigen haben, der bei der Kapo St. Gallen erfasst wird, müssen Sie in Zürich anrufen und fragen: Habt ihr den auch? Das soll sich jetzt ändern, auf Antrag des Parlaments. Es wird eine gesamtschweizerische Plattform geben.

Noch einmal zurück zu Europa: Letzten Mittwoch hat die Landesregierung seit langer Zeit wieder einmal offiziell über das Rahmenabkommen gesprochen. Wissen Sie jetzt, wie es nach der Abstimmung weitergeht?
Militärisch gesprochen, würde ich sagen: Halt, sichern. Jetzt geht es darum, dass das Stimmvolk hoffentlich den bilateralen Weg bestätigt. Damit wäre der Status quo gesichert. Wie es dann weitergeht, ist vorgegeben durch die drei Punkte, die der Bundesrat noch klären will. Er hat das Abkommen nicht unterzeichnet, weil er gesagt hat: Bei den staatlichen Beihilfen, der Unionsbürgerrichtlinie und dem Lohnschutz ist das Ergebnis unbefriedigend. Wir arbeiten mit den Sozialpartnern, mit den Kantonen und im Bundesrat an möglichen Lösungen. Nach dem 27. September werden die Arbeiten weitergehen. Der Bundesrat wird dann diese drei Fragen konsolidieren.

Was sagen denn die Sozialpartner derzeit - und was sagt der Bundesrat?
Wir haben zwar einen regelmässigen Austausch mit den Sozialpartnern und den Kantonen, aber es wird jetzt niemand sagen, welche Forderungen er in welchem Dossier auf den Tisch legen wird Immerhin finden die Gespräche wieder statt und sind konstruktiv. Das ist schon viel.

In der jetzigen Abstimmungskampagne überhöhen Sie den Wert der Bilateralen. Das schwächt die Verhandlungsposition der Schweiz beim Rahmenabkommen. Die EU weiss: Diese Regierung will auf Biegen und Brechen die Bilateralen sichern.
Nein. Es geht jetzt darum, den Status quo zu sichern. Erst danach wird sich die Frage stellen, ob man den Bilateralen Weg weiterentwickeln will. Wenn nicht, was sind die Konsequenzen, und wenn ja, was bekommt man dann? Diese Fragen sind separat zu beantworten.

Die EU braucht viel Geduld mit der Schweiz.
Wir haben ein gegenseitiges Interesse, dass wir am Schluss ein gutes Resultat erreichen. Ja, das braucht vielleicht etwas Geduld. Aber wir haben auch ein anderes demokratisches System. Hier kann nicht einfach die Regierung kommen und sagen: Das ist unsere Position, wir verhandeln das und bringen es durch das Parlament. Wir haben ein direktdemokratisches System. Und wir sind vielleicht nicht immer die Schnellsten, aber wenn wir dann einmal Ja sagen, dann sind wir zuverlässige Partner.
 

Weitere Infos

Dossier

  • Begrenzungsinitiative – Bundesrat will Personenfreizügigkeit nicht kündigen

    Der Bundesrat lehnt die Volksinitiative "Für eine massvolle Zuwanderung (Begrenzungs-Initiative)" ab. Die Initiative verlangt das Ende der Personenfreizügigkeit mit der EU. Sie gefährdet den bilateralen Weg der Schweiz. Ohne das Freizügigkeitsabkommen (FZA) und die damit verknüpften Verträge verlieren die Schweizer Unternehmen den direkten Zugang zu ihrem wichtigsten Markt. Dies zu einem Zeitpunkt, in dem die Wirtschaft Perspektiven für Wege aus der Coronakrise braucht. Eine Annahme der Initiative hätte einschneidende Konsequenzen für die Arbeitsplätze und unseren Wohlstand.

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Letzte Änderung 22.08.2020

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